Vor 20 Jahren schrieben die M+E-Tarifparteien mit dem „Pforzheimer Abkommen“ Tarifgeschichte

Dr. Schulz: "Der Begriff "Pforzheim" ist zu einem Plädoyer für eine innovative Tarifpolitik geworden"

Am 12. Februar 2004, also heute vor 20 Jahren, haben die Tarifparteien der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie (M+E) Tarifgeschichte geschrieben. Mit dem Tarifabschluss in Pforzheim haben sie eine wegweisende Vereinbarung getroffen. Diese ermöglicht es Betrieben in schwieriger Situation, vorübergehend vom Flächentarif abzuweichen, um so auch Beschäftigung zu sichern. „Die Vereinbarung hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, die damalige massive Tariferosion zu bremsen und den Flächentarif zu stabilisieren“, sagte Dr. Joachim Schulz anlässlich des Jubiläums am Montag in Stuttgart: „Der Geist des Abkommens lebt bis heute in den Betrieben. Sie ist zu einem eindringlichen Plädoyer für eine innovative Tarifpolitik geworden.“

Nach zähen Verhandlungen präsentierten die damaligen Chefverhandler Dr. Otmar Zwiebelhofer für Südwestmetall und Jörg Hofmann für die IG Metall Baden-Württemberg in Pforzheim den Pilotabschluss für die M+E-Industrie. Charme und Tragweite des zusätzlich vereinbarten Abkommens erschlossen sich freilich nicht sofort. Südwestmetall hatte auf eine verbindliche Regelung gedrängt, die den Betriebsparteien Abweichungen vom Flächentarif erlauben sollte. Doch man konnte sich nur auf einen allgemeinen Rahmen für einen Prozess verständigen, der zudem immer die Zustimmung der Tarifvertragsparteien erforderte. „Entsprechend verhalten bis negativ war das Medienecho, von einem ‚Waterloo‘ der Arbeitgeber war die Rede“, erinnert sich Schulz.

Doch schon bald griffen immer mehr Betriebe die Möglichkeit auf - Betriebe, die sich wirtschaftlich in einer schwierigen Situation befanden oder die mehr Spielraum für dringend erforderliche Investitionen benötigten. Auch Betriebsräte und IG Metall arbeiteten konstruktiv an Lösungen mit, mit denen längerfristig Standorte und Beschäftigung gesichert werden konnten. Je nach Herausforderung wurde beispielsweise mal kollektiv die Arbeitszeit abgesenkt oder unentgeltliche Mehrarbeit vereinbart. So konnten die Unternehmen von Kosten entlastet werden - immer mit dem Ziel, wieder zu den Regelungen des Flächentarifs zurückzukehren, wenn sich die Situation gebessert hatte. Im Gegenzug stand in aller Regel eine Beschäftigungssicherung. „Bis zum Abschluss des Pforzheimer Abkommens haben wir jahrelang einen starken Rückgang der Tarifbindung erlebt. Bis dahin hatten Betriebe, denen der Flächentarif zu teuer oder zu unflexibel wurde, ja praktisch nur zwei Möglichkeiten: einen aufwändigen Sanierungstarifvertrag abschließen oder sich gleich komplett vom Tarif zu verabschieden“, so Schulz: „Mit Pforzheim ist es uns gelungen, diesen Abwärtstrend zu stoppen. Für solche betrieblichen Sonderregelungen hat sich der Begriff „Pforzheim-Tarifvertrag“ etabliert. Das belegt den Riesenerfolg dieser anfänglich unscheinbar aussehenden Vereinbarung.“

Mittlerweile sind die Regelungen von Pforzheim in einen Tarifvertrag überführt, die Spielregeln konkretisiert, ergänzt und angepasst worden. Das Grundprinzip – befristete betriebliche Abweichung vom Flächentarif mit Zustimmung der Tarifparteien gegen Beschäftigungssicherung – ist aber dasselbe geblieben. Unzählige Male sei es so gelungen, Betrieben eine Brücke über eine schwierige Zeit hinweg zu bauen. Standorte und Beschäftigung wurden gesichert, die dauerhafte Abkehr von der Tarifbindung verhindert. „Pforzheim war somit auch ein wichtiger Fingerzeig, dass wir mehr individuelle, maßgeschneiderte Lösungen innerhalb des Flächentarifs ermöglichen müssen. Wir haben eine äußerst heterogene Industrie. Da ist das Prinzip One-Size-fits-all nicht immer die klügste Antwort“, sagt Schulz: „Es ist gut, dass wir gerade in der heutigen Zeit der Krisen, Konjunkturschwankungen und Unsicherheiten solche Instrumente in der tariflichen Werkzeugkiste haben.“

Auch nach ‚Pforzheim‘ ist die Zahl der tarifgebundenen Betriebe in der baden-württembergischen M+E-Industrie weiter zurückgegangen, allerdings deutlich langsamer als zuvor. Vor allem aber kommen heute in den noch gut 900 tarifgebundenen Betrieben mehr Menschen in den Genuss tarifvertraglicher Regelungen als noch vor 20 Jahren. „Der Gesetzgeber hat den Sozialpartnern mit der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie eine enorme Verantwortung übertragen, ihre Arbeitsbedingungen selbst zu regeln. Dieser Verantwortung werden wir aber nur mit einer großen Beteiligung von Betrieben wie Beschäftigten gerecht, also einer hohen Tarifbindung“, so der Südwestmetall-Vorsitzende: "Dafür werben wir am besten mit modernen, innovativen Tarifverträgen, die die unterschiedlichen Anforderungen der Betriebe berücksichtigen und Überforderungen vermeiden. An diesem Weg wollen wir auch in Zukunft gerne mit uns erem Sozialpartner, der IG Metall, konstruktiv weiterarbeiten.“

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Volker Steinmaier

Referatsleiter Medienarbeit Print, Rundfunk und TV

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